Multimediales Storytelling erfreut sich in vielen Online-Redaktionen immer größerer Beliebtheit: Bekannte Geschichten wie „Snow Fall“ haben dieses neue Genre stark beeinflusst. Doch ist es nur ein Trend, der vielleicht bald wieder in Vergessenheit geraten wird? Oder liegt hier die Zukunft des Online-Journalismus?
Multimediales Storytelling bezeichnet journalistische Reportagen oder Features, die multimediale Inhalte wie Videos, Animationen oder Bildergalerien einbinden, um eine Geschichte zu erzählen. Aufwendiges, kreatives oder interaktives Web-Design ist ebenfalls ein beliebtes Stilmittel der Produzenten. Manche Storys können es so sogar zu wahren Kunstwerken der digitalen Welt schaffen. Neue technische Möglichkeiten ebenso wie sich verändernde Nutzungs- und Wahrnehmungsstrukturen auf Seiten der Rezipienten haben die Entwicklung des Multimedialen Storytellings in den vergangenen Jahren befördert. Damit haben sich auch die narrativen Erzählkonzepte der Autoren verändert, denn meistens dürfen die User entscheiden, wo es lang geht. Welche langfristigen Einflüsse das auf den Journalismus ausüben wird, kann man jetzt noch nicht absehen.
Als ein Meilenstein des journalistischen Multimedia-Storytellings gilt „Snow Fall“. Das Feature der New York Times handelt von einer Gruppe erfahrener Skifahrer, die 2012 durch ein schweres Lawinenunglück verschüttet worden waren. Dabei starben drei Menschen. Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt, ergänzt durch Videosequenzen, zahlreiche Animationen und die Original-Funksprüche. Für ihre Geschichte gewann das Team der New York Times den renommierten Pulitzer-Preis, was das Interesse am multimedialen Storytelling noch vergrößerte.
Mittlerweile hat sich „to snow fall“ in der Redaktion der New York Times sogar als Verb durchgesetzt. Die Zeitung versucht nun, mehrere solcher Projekte im Jahr zu veröffentlichen. Viele Zeitungen, Agenturen oder Journalistenteams sind auf diesen Zug aufgesprungen, wobei die Projekte immer gewaltigere Ausmaße annehmen. Wer überzeugen will, braucht ein Team, das jedes Spektrum des multimedialen Storytellings bedienen kann. An der Produktion von „Snow Fall“ waren neben dem Autor beispielsweise noch sechzehn andere Personen beteiligt. Joachim Türk, Unternehmensberater und ehemaliger Chefredakteur der Rhein-Zeitung, betrachtet dieses „Aufblasen“ von Geschichten jedoch kritisch und glaubt, es werde sich im journalistischen Tagesgeschäft nicht durchsetzen.
Die notwendige schnelle Verarbeitung von Nachrichten und Geschehnissen biete den Redakteuren nur selten die Chance, aufwendig visualisierte Geschichten zu publizieren. Nur in größeren traditionellen Medienhäusern habe man die Mittel, intensiv zu recherchieren und dann entsprechend ausgefeilt digital zu erzählen.
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ sticht mit multimedialen Anwendungen im lokalen Journalismus besonders hervor, genauer gesagt mit seiner iPad-App. Und zwar so gut, dass das renommierte US-Marktforschungsunternehmen McPheters & Company sie zu einer der neun besten Zeitungs-Apps der Welt gekürt hat, weil die App den Leser fessele und die Inhalte sich perfekt dem iPad anpassten. Rund 11.000 Medien-Apps weltweit wurden dabei begutachtet. Der KStA sieht sich damit in der Strategie bestätigt, neben der „reinen“ Textproduktion auf die crossmediale Verarbeitung von Bildern, Videos, Hörproben und Grafiken zu setzen.
Eine weitere deutsche Zeitung, die im Bereich des Multimedialen Geschichtenerzählens schon mal ausgezeichnet wurde und als Vorreiter im deutschsprachigen Raum gilt, ist „ZEIT ONLINE“. Ihr „Tour de France“-Projekt, das aktuelle und historische Informationen rund um das berühmte Fahrradrennen in einem Web-Special vereint, fand weltweit Beachtung.
Auch an dem Projekt „Verräterisches Handy“ war ZEIT ONLINE beteiligt. Der Grünen-Politiker Malte Spitz hatte im Jahr 2009 erfolgreich seine Vorratsdaten aus sechs Monaten bei der Telekom eingeklagt und der Redaktion zur Verfügung gestellt. Eine interaktive Karte zeigt nun all seine Bewegungen in diesen sechs Monaten. Mittels Play-Button lassen sich seine Aufenthaltsorte in einer beliebigen Geschwindigkeit nachvollziehen, in einer Zeitleiste lassen sich einzelne Tage gezielt anwählen. Für jeden Tag steht eine Statistik darüber zur Verfügung, wie lang Malte Spitz mit dem Internet verbunden war, wie viele Nachrichten er verschickt hat oder wie lang und wie oft er telefoniert hat.
Der Konsument erfährt durch Multimediales Storytelling ein neues Leseerlebnis. Komplexe Sachverhalte können anschaulich visualisiert und einer größeren Menge von Leuten mitgeteilt werden (siehe auch Datenjournalismus). Der größte Vorteil dieser Art, Geschichten zu erzählen, ist, dass den Usern nicht nur Fakten präsentiert werden, sondern dass die Geschichten auch Emotionen wecken.
„The Whale Hunt“ setzt genau auf diesen Effekt: Die Reportage begleitet eine Inuit-Familie neun Tage lang bei einem traditionellen Walfang. Ihr Web-Projekt sehen die Autoren Jonathan Harris und Andrew Moore als „Experiment des Geschichtenerzählens“, ungewöhnliches Web-Design und zahlreiche interaktive Steuermöglichkeiten inklusive. Harris und Moore sind als freie Publizisten eine Ausnahme: An ihrem Projekt war keine große Redaktion beteiligt.
Auch „Days with my father“ ist ein solches privat initiiertes und persönlich motiviertes Projekt. Es handelt sich um Digital Storytelling des Fotografen Phillip Toledano, der in einer flashbasierten Bildergalerie die Beziehung zwischen ihm und seinem demenzkranken Vater zwei Jahre lang bis zum Tod des Vaters dokumentiert. Durch den einfachen und minimalistischen Aufbau der Site als Bildergalerie kann der Besucher nach eigenem Wunsch durch die Fotografien navigieren. In diesem Fall ist das Zusammenspiel der digitalen Umsetzung und des bewegenden Inhalts sehr gut gelungen. Mit der Steuerung der Bildergalerie ist es dem User überlassen, wie intensiv er sich mit diesem sensiblen Thema auseinandersetzt.
Mit einem so ungewöhnlichen, gleichzeitig minimalistischen Design arbeiten viele Multimedia-Storys: Das Wesentliche – die Geschichte, die journalistische Aussage – soll allein und für sich stehen. Klassische Web-Layouts, Header, Footer, Seitenleiste, sind da nur selten anzutreffen. Stattdessen kommen immer häufiger sogenannte „OnePager“ zum Einsatz – Websites, in denen der Inhalt schrittweise dargestellt wird, gewöhnlich in vergleichsweise kleinen Textblöcken und immer wieder durchbrochen von großrahmigen Bildern, Videosequenzen oder Animationen. Ein gutes Beispiel dieser neuen Design-Idee ist „Out in the great alone“ über das härteste Schlittenhunderennen der Welt.
Die flächige Gestaltung vieler Projekte erinnert an das Layout von Print-Magazinen, eine Computerspiel-Grafik oder, wie im Fall von „Prison Valley“, an einen interaktiven Film: Der deutsch-französische Kultursender ARTE hat mit dieser Produktion viel mehr als einen Online-Artikel erstellt und nennt „Prison Valley“ deswegen zu Recht einen Web-Dokumentarfilm.
„Prison Valley“ ist ein crossmediales Projekt über eine amerikanische Kleinstadt mit 13 Gefängnissen. Der Film wurde im normalen Free-TV ausgestrahlt und in ein Web-Special eingebunden, das Usern unzählige Möglichkeiten bietet, sich über das kontroverse Thema „Gefängnisindustrie“ zu informieren. Ein eigener Account ermöglicht es, jederzeit dort weiterzulesen, wo man aufgehört hat, und interaktive Elemente bestimmen die Reihenfolge der rezipierten Filmsequenzen.
So kreiert jeder User seine eigene Story – und kann sich interaktiv austauschen, beispielsweise mit dem Besitzer eines Motels oder mit den Gefängnisinsassen. Außerdem gibt es Blogs, Foren, Fotostrecken, eine Handy-App, aufwendig gestaltete Statistiken. Die emotional und spannend gestaltete Web-Doku mit Dialogfunktionen ermöglichte es, viel mehr Interessenten zu erreichen, als es mit einer normalen TV-Dokumentation möglich gewesen wäre.
Zwar gibt es mittlerweile zahlreiche Beispiele für gelungenes multimediales Storytelling gerade in großen Zeitungsredaktionen, wie auch das Beispiel „Fukushima“ der Neuen Zürcher Zeitung belegt. Dennoch sind solche Geschichten keine Sache des redaktionellen Alltags. Auch viele Nutzer stoßen nur dann darauf, wenn es ein Werk zu kleiner Berühmtheit schafft und sich viral verteilt. Für den ehemaligen Chefredakteur der Rhein-Zeitung Joachim Türk „lohnt es sich, auch über Storytelling auf verschiedenen Kanälen nachzudenken“. Durch gesammelte Beiträge auf Social-Media-Plattformen und YouTube-Videos kann man an geschehene Ereignisse in einer „gemeinsamen Choreografie“ erinnern.
Ob es in Zukunft immer mehr solcher aufwendigen Storytelling-Produktionen geben wird oder sie wieder in der Versenkung verschwinden, bleibt abzuwarten. Dass dieses Konzept beim Publikum auf große Beliebtheit stößt, wird sich in der nächsten Zeit wahrscheinlich nicht ändern. Bisher sieht es so aus, als ob nicht nur der Daten-, sondern auch der Lokaljournalismus davon profitieren kann, wie das Beispiel des Kölner Stadtanzeigers zeigt. Wie jedoch der Aufwand, den multimediales Storytelling mit sich bringt, verringert werden kann, damit er einen festen Platz in den Redaktionen dieser Welt findet, ist ungewiss.
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